Andreas Böttger, Pamela Bartels, Michaela Kiepke, Olaf Lobermeier, Katarzyna Plachta, Anne Rothmann und Rainer Strobl
Dieses
Projekt wurde für den interdisziplinären Forschungsverbund "Stärkung
von Integrationspotentialen einer modernen Gesellschaft" konzipiert, der
aus bundesweit 17 Forschungsvorhaben besteht und von dem "Institut für
interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung" der Universität
Bielefeld koordiniert wird.
Es soll eine Dimension untersuchen,
die für die Analyse der Bedingungen und Folgen rechtsextremer Gewalt
unverzichtbar ist, nämlich die Folgen, die Gewalthandlungen dieser Art
für die betroffenen Opfer, ihre Lebenswelt und ihre sozialen Beziehungen
in einem modernen Gesellschaftssystem haben können.
Die
theoretische Grundlage des Projekts bildet ein interaktionistisches
Sozialisationsmodell, das davon ausgeht, daß die Sozialisation eines
Gesellschaftsmitglieds als lebenslanger Prozeß zu begreifen ist, in dem
seine Identität durch die Interaktion mit anderen einer ständigen
Weiterentwicklung unterliegt und in dem eine Beeinflussung der
Individuen durch die Gesellschaft ebenso erfolgt wie eine Ausgestaltung
gesellschaftlicher Entwicklungen durch die Individuen selbst.
Vor
diesem Hintergrund sollen Prozesse der Opferwerdung
(Viktimisierungsprozesse) als Folgen rechtsextremer Gewalt bei
betroffenen Opfern mit Hilfe qualitativer Forschungsmethoden
nachgezeichnet werden, die zunächst so weit wie möglich auf das
Verstehen des subjektiven Erlebens der Tat und ihrer individuellen und
sozialen Folgen ausgerichtet sind.
Geplant ist eine qualitative
Längsschnittstudie mit zwei Erhebungswellen im Abstand von einem Jahr.
Dieses längsschnittliche Design erlaubt es, Entwicklungsprozesse im
Lebensverlauf (wie die Verarbeitung von Opfererlebnissen) in ihrer
individuellen Dynamik nachzuzeichnen und dabei auch Effekte in Rechnung
zu stellen, die sich durch Veränderungen der nachträglichen Deutung
biographischer Ereignisse ergeben können, Unter Gewalt werden im Rahmen
des Projekts Handlungen von Menschen verstanden, die durch den Einsatz
körperlicher oder (bei Waffengebrauch) mechanischer Kraft oder durch die
ernsthafte Androhung solcher Krafteinsätze gekennzeichnet sind (vgl.
Böttger 1998). Mit dieser Definition sollen Phänomene, die bisweilen mit
"psychischer", "verbaler" oder "struktureller" Gewalt bezeichnet
werden, weder verharmlost noch aus der Analyse ausgeschlossen werden. Um
den Gewaltbegriff nicht zu überfrachten, werden diese Phänomene hier
jedoch mit anderen Begriffen bezeichnet (z.B. "Zwang" oder "Macht").
Als
rechtsextreme Gewalt soll ein Krafteinsatz oder seine Androhung dann
bezeichnet werden, wenn er Ausdruck einer auch unabhängig von der
aktuellen Gewalthandlung bestehenden generellen Gewaltakzeptanz ist
sowie einer damit verbundenen Ideologie der Ungleichheit bzw.
Ungleichwertigkeit (z.B. in Bezug auf bestimmte Kulturen oder ethnische
Gruppen) (vgl. Heitmeyer 1992).
Der Begriff des Opfers ist in der
Studie aus grundsätzlichen Überlegungen nicht auf strafrechtliche
Normverstöße eingegrenzt (vgl. Strobl 1998). Dennoch wird es sich bei
den zu untersuchenden Viktimisierungen durch rechtsextreme Gewalt in
aller Regel um Delikte im Sinne des Strafrechts handeln, was zunächst
eine Folge des vergleichsweise engen Gewaltbegriffs ist. Dies schließt
jedoch nicht aus, daß im Rahmen der weiteren Analysen auch andere,
strafrechtlich nicht relevante Opfererfahrungen zum Gegenstand werden
können, etwa beim späteren Kontakt der Geschädigten mit den "sozialen
Kontrollinstanzen" wie Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht.
Auf
dieser theoretischen Basis und im Rahmen dieser definitorischen
Grenzziehungen ist es die zentrale Aufgabe der empirischen Untersuchung,
längerfristige Folgen rechtsextremistisch motivierter gewalttätiger
Übergriffe sowohl hinsichtlich individueller Erfahrungen und
Verarbeitungsmechanismen bei den Opfern zu untersuchen als auch in bezug
auf gesellschaftliche Integrationspotentiale und
Desintegrationsgefahren, denen die Opfer ausgesetzt sein können.
Literatur:
Böttger,
Andreas, 1998: Gewalt und Biographie. Eine qualitative Analyse
rekonstruierter Lebensgeschichten von 100 Jugendlichen. Baden-Baden:
Nomos.
Heitmeyer, Wilhelm, Heike Buhse, Joachim Liebe-Freund, Kurt
Möller, Joachim Müller, Helmut Ritz, Gertrud Siller und Johannes Vossen,
1992: Die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie. Erste
Langzeituntersuchung zur politischen Sozialisation männlicher
Jugendlicher. Weinheim/München: Juventa.
Strobl, Rainer, 1998:
Soziale Folgen der Opfererfahrungen ethnischer Minderheiten. Effekte von
Interpretationsmustern, Bewertungen, Reaktionsformen und Erfahrungen
mit Polizei und Justiz, dargestellt am Beispiel türkischer Männer und
Frauen in Deutschland. Baden-Baden: Nomos.